Was sind die großen Themen, die uns dieses Jahr erwarten? Da Nele solche Prognosen ganz und gar nicht mag, antwortet sie darauf lieber mit einem Verweis auf Dinge, die sie 2020 (weiter) beschäftigen werden.
Von *den Daten* zum Diskurs
Ein Thema, das ich aus dem alten in das neue Jahr mitnehme, ist digitale Ethik. Gemeinwohlorientierung, Transparenz, Verantwortung: Das sind nur ein paar der Schlagworte, die uns zuletzt immer wieder um die Ohren flogen. Algorithmen-Ethik, KI-Ethik, Datenethik – ethics everywhere! Die Gründe für diesen “ethical turn” in der Debatte um die Folgen digitaler Technologien sind mannigfaltig. Ob es sich dabei vorrangig um den Versuch der Tech-Industrie handelt, Regulierung zu umgehen [1], oder doch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Dimensionen normenbasierter Technikgestaltung zum Wohle der Gesellschaft, wird weiter zu beobachten zu sein. Dass es der Debatte mitunter an inhaltlicher Tiefe mangelt, kritisieren viele, die sich nicht erst seit gestern mit ethischen Fragen befassen. Teils fehlen uns (noch) die Konzepte, um normative Implikationen digitaler Technologien fassen, bewerten, diskutieren zu können. Bzw. stützen wir uns dabei nach wie vor auf tradierte Ansätze, etwa aus Medizin-, Medien- oder Forschungsethik, die aber nur begrenzt übertragbar sind. Dass dadurch wichtige Perspektiven unterbeleuchtet bleiben und sehr unterschiedlich gelagerte Konzepte durcheinander gewürfelt werden, zeigte jüngst die Debatte um das Ende Oktober 2019 veröffentlichte Gutachten der Datenethikkommission.
Wir werden uns 2020 also weiter darum kümmern müssen, was eigentlich hinter Begriffen wie “Datenethik” steht. Dabei sollten wir uns im Anschluss an Überlegungen wie von Lorena Jaume Palasi unter anderem darüber austauschen, wie eine Datenethik aussehen könnte, die über Konzepte von Datenschutz und Autonomie bzw. vorrangig auf das Individuum bezogene ethische Argumentationslinien hinausgeht. Wie etwa sähen Prinzipien einer auf soziale Formationen, auf Gesellschaft ausgerichteten Datenethik aus? Wie ließen sich hier zum Beispiel die immer lauter werdenden Rufe nach gemeinwohlorientierten Daten(auswertungen) integrieren? Überhaupt, wie kann sowas aussehen, gemeinwohlorientierte Technologie (wie sie etwa im Rahmen der bits & Bäume gefordert wurde)?
Von der Debatte um Mobilität, Gesundheitsdaten bis zu Varianten von Social Scoring durch staatliche Institutionen: Wir brauchen endlich ein paar neue Ideen, um den manchmal paternalistisch anmutenden Ansätzen von Regulierung, Bildung oder Verbraucherschutz etwas Konstruktiv-Kreatives, Subversives beizufügen. Einen emanzipatorischen Umgang mit und Gebrauch von Daten, wie er beispielsweise im Feminist Data Manifest-No anklingt. Dafür gilt es die oft sehr allgemein formulierten (normativen) Forderungen in Gutachten usw. konkreter zu denken. Und vielleicht auch etwas optimistischer. Das geht aber nicht ohne die Betroffenen – wir, die Gesellschaft, in all ihrer Vielfalt – endlich besser in die Debatte um die Gestaltung digitaler Technologien einzubeziehen. Damit das gelingt, müssen wir Wege finden, der Entfremdung der Menschen von ihren Daten zu entgegnen. Und das wird vermutlich eine der großen Herausforderungen dieses Jahres – und weit darüber hinaus.
Und sonst so?
Weiterhin spannend zu beobachten bleibt die Entwicklung digitaler Öffentlichkeiten, Plattformen und des Mediengebrauchs. So verdeutlicht die im letzten Jahr aufgekommene, teils befremdlich und immer hemmungsloser geführte Debatte um die vermeintlich bedrohte Meinungsfreiheit: Das Credo “über Selbstverständlichkeiten reden wir nicht” ist problematisch. Ja, wir müssen dringend über den Zustand gesellschaftlicher Institutionen unter den Bedingungen des Digitalen reden. Dabei müssen wir aber sehr genau hinschauen, welche Akteure solche Diskussionen anstoßen und wie wir darüber reden. Und vor allem dürfen wir dabei nicht müde werden, das vermeintlich Selbstverständliche, nämlich die Grundlagen von Demokratie, zu erklären und in brodelnden Debatten mitzudenken. Aus OWNW-Sicht interessant ist hier unter anderem die spannungsreiche Rolle von Intermediären und Plattformen: Wie werden sie 2020 mit den vielen, teils widersprüchlichen Forderungen aus Politik und Gesellschaft umgehen? Etwa jener, dass sie den Nutzer*innen Inhalte “ausgewogen” präsentieren müssten – was soll das eigentlich bedeuten? Kann eine algorithmisch strukturierte Umgebung Meinungsbilder “öffnen”? Wie passt das zum Versprechen personalisierter Nutzungserfahrungen? Und können wir uns 2020 vielleicht endlich von der “Filterblase” verabschieden?
Und dann wäre da noch ein Thema, das mich schon länger umtreibt: der anhaltende Audio-Hype. Der bietet nahezu alles, was man zur generellen Entwicklung digitalen Mediengebrauchs beobachten kann. Die Vermessung des Hörens, datengetriebene Geschäftsmodelle, die Dominanz von Streaming. Nicht zuletzt der laufende Kampf zwischen konkurrierenden Plattformen, der auch im Audio-Bereich mit Exclusives, Paycasts, personalisierten Podcast-Listen usw. zu einer “Verinselung” der Mediennutzung führen könnte. 2020 wird spannend zu beobachten, wohin diese Entwicklung geht: Datenbasiertes Audiomarketing kocht hierzulande erst richtig hoch, Anbieter wie Spotify erfassen nicht mehr nur die Beziehung zwischen User*innen und Musik, sondern auch zu politisch-kulturellen Inhalten in Podcasts. Was hat diese (erfahrungsgemäß nicht immer günstige) Kombination aus Kommerzialisierung und Plattformisierung des Hörens für Konsequenzen? Welche Bedeutung behalten dabei offene, dezentrale Technologien wie RSS? Und werden wir eine neue Blüte der “privaten Sicherungskopie” erleben?
Man sieht: Es gibt so einiges, das wir 2020 im Auge behalten sollten. Und das ist doch ein schöner Auftrag. An uns alle.
[1] Besonders im Fokus dürfte diesbezüglich das im Oktober 2019 eröffnete Institut für Ethik in der Künstlichen Intelligenz (IEAI) an der TU München stehen. Denn: Es wird von Facebook mit Millionenbeträgen gefördert – ein Schelm, wer Böses dabei denkt.