Worüber werden wir in diesem Jahr sprechen müssen? In unserer Reihe von Ausblicken auf das kommende Jahr legt uns heute tante die Karten.
Die Analyse von soziotechnischen Systemen und Phänomenen ist meistens – wenn nicht immer – weit weniger technisch als landläufig gedacht. Ob es um “KI” geht oder um “Überwachung”, die Analyse der technischen Spielereien ist oft kaum ergiebig im Vergleich zur Analyse der Narrative, d.h. der Art und Weise, wie unterschiedliche Personen und Gruppen über das Thema sprechen.
In den (soziotechnischen) Themenfeldern, die das Otherwise Network bearbeitet, werden 2020 meiner Meinung nach unter anderem die folgenden Aspekte von besonderer Bedeutung sein.
“KI-Winter”: Nachdem das Thema “KI” seit einigen Jahren extrem überhypt und auch mit Forschungsgeldern überschüttet wurde, wird sich zunehmend herausstellen, dass sich die Versprechen der Startups und Vordenker*innen nicht zu erfüllen scheinen – sogar Facebook gibt das mittlerweile zu. Bestimmte, einfache Aufgaben (Gesichtserkennung und andere simple Mustererkennungs-Tasks) werden zwar recht zuverlässig von Machine Learning Systemen bewältigt, aber die großen Versprechen (wie z.B. autonomes Fahren) liegen wohl weiterhin viele Jahre in der Zukunft (bzw. stellen sie sich zunehmend als Illusionen heraus). Das aktuell das Themenfeld “KI” dominierende Machine Learning stößt zunehmend an seine Grenzen. Deswegen stellen sich mit Blick auf 2020 auch einige Fragen: Kommt der nächste “KI-Winter” oder schleppt sich der Status Quo noch ein Jahr weiter? Wird der Begriff “KI” fallengelassen und ein neues Label auf dieselben Technologien geklebt und wie wird sich das auf die Debatten um Regulierungen von “KI” auswirken? Wie verändert sich die gesellschaftliche und politische Perspektive auf das Buzzword “KI”?
“Ethics in X”: “Datenethik”, “Algorithmenethik” und “KI-Ethik” werden weiterhin populäre Meme sein, unter denen sich ein ziemlich heterogener Mix aus Forschungsinstituten, NGOs und Unternehmen sammelt. Sie machen alle irgendwas zu Technologie, ihre einzige Gemeinsamkeit scheint aber zu sein, dass ihre Arbeit oft sehr wenig mit Ethik zu tun hat. Das Meme wird weiterhin den Diskurs steuern und seinen Weg insbesondere auf EU Ebene in Regulierung finden (zum Beispiel auf Basis des eher nicht so gelungenen Berichtes der Datenethikkommission). Es wäre sehr wünschenswert, den Diskurs um ethische Grundsätze für das Digitale im kommenden Jahr auf deutlich robustere Theorien zu stützen und auf dieser Basis (weiter) zu entwickeln. “Ethics-washing”, d.h. das Legitimieren von zweifelhaftem Technologieeinsatz durch “Ethik Grundsätze” oder “Ethik Boards”, wird sich weiter professionalisieren. Wir werden erste Ansätze durch Institute sehen, “Ethik” gegen Geld zu zertifizieren.
Auch Monopolfragen werden uns weiterhin beschäftigen. Facebook und Google sind zum Teil die grundlegenden Strukturen des Internets geworden und überhemen immer wieder kleinere Dienste. Wie gehen wir mit dieser Macht- und Marktkonzentration um? Sollten diese Anbieter eher zerschlagen werden? Oder besser interoperabel werden?) Oder investiert die EU mal wieder in europäische Clone? Der bisherige Umgang mit dieser Herausforderung ist oft entweder geprägt von Affirmation (“Living La Vida Google”), Fundamentalopposition oder Hilflosigkeit. Es wird von zentraler Bedeutung sein, sich politisch zu diesen zunehmend staatsähnlichen Gebilden zu positionieren und belastbare Strategien zu entwickeln, wie die Macht solcher Unternehmen demokratisch kontrolliert werden kann. Die Addressierung der Monopolstellung diverser digitaler Plattformen sollte in 2020 der erste Schritt auf diesem Wege sein.
Ebenso wird uns auch die Zukunft der Arbeit weiterhin als zentrales Thema durch das Jahr 2020 begleiten. Hierbei steht im Zentrum, das Science Fiction Meme von der Vollautomatisierung (in utopischer wie dystopischer Ausrichtung) auf die Realität anzupassen und darüber nachzudenken, wie ein gerechtes Zusammenleben in einer Welt aus Microjobs und Teilautomatisierung aussehen kann und soll. Wie müssen die Rechte von Arbeitnehmer*innen angepasst werden, um einen Schutz im Jahre 2020 zu gewährleisten? Wie muss Automatisierung besteuert werden? Welche Rolle können Gewerkschaften für “selbstständige” Microjobber einnehmen?
Last but not least: “Quantumcomputing”. Selbst wenn die meisten Menschen nicht verstehen, was genau das ist und warum genau es möglicherweise für sehr, sehr spezifische Probleme potentiell große Fortschritte erlauben wird, so ist der Quantum-Hype gerade in der frühen Phase. Insbesondere auch nachdem Alphabet/Google nun unter dem unsäglichen Begriff der “Quantum supremacy” die Technologieführerschaft beansprucht. So ähnlich wie “die Cloud” oder “KI” wird “Quantum” im nächsten oder übernächsten Jahr der Begriff sein, unter dem viel Schlangenöl verkauft werden könnte. Hier wird viel Narrativ-Analyse und Aufklärungsarbeit anfallen, um Fakt von Fiktion und PR zu trennen.