Ausblick2020

Ausblick 2020 – Michael Seemann

Was bringt das neue Jahrzehnt? Wir vom Otherwise Network spekulieren uns durch die Gegend. Heute Michael Seemann.

2020 wird das Jahr, in dem sich die globale IT-Landschaft weiter entlang unterschiedlicher Achsen politisiert. Zum Einen werden auch demokratisch gewählte Regierungen immer aggressiver und bedenkenloser auf Überwachungs-Möglichkeiten der IT-Infrastrukturanbieter zurückgreifen (Zugriff auf Daten fordern, Verschlüsselung unterminieren und fordern, in Prozesse eingreifen zu können). Es wird ihnen dabei argumentativ um bessere Kontrolle der Bevölkerung und um die Sicherung der Außengrenzen gehen.

Auf der anderen Seite wird sich der Widerstand dagegen stärker formieren. Einerseits in der Zivilbevölkerung und andererseits auch bei den Mitarbeiter*innen der Unternehmen selbst. Die Google Walkouts sind erst der Anfang. 2020 wird in den USA starke IT-Gewerkschaften hervorbringen, die mit eigenen Ethikrichtlinien ihre Arbeitgeber unter Druck setzen. Sie werden auch ein Vehikel innerhalb der innenpolitischen Kulturkämpfe in der nächsten Regierungsamtszeit von Trump.

Die Folge wird sein, dass es einen Split zwischen Unternehmen geben wird, die sich den Anforderungen Regierungen oder einiger ihre Vorhaben widersetzen und Unternehmen, die kooperieren. Viele werden sich zunächst versuchen irgendwo dazwischen durchzumogeln, ohne sich zu positionieren. Das Spiel ist allerdings nicht lange Durchhaltbar. Plattformen werden politisch.

Versuche innerhalb der institutionellen Politik, die Macht der Plattformen zu brechen, wird an Politiker*innen scheitern, die die Macht der Plattformen lieber für die eigene Zwecke nutzen wollen. Forderungen wie die „Zerschlagung“ monopolartiger Strukturen werden dabei auf Dauer im Raum gelassen, um ein politisches Druckmittel zu haben, die Plattformbetreiber zur Kooperation zu ermuntern. Politik wird Plattformpolitik.

All das wird durch die sich aufschaukelnden geopolitischen Spannungen massiv beeinflusst und meist noch befeuert. Insbesondere der schwelende Handelskrieg zwischen USA und China wird das Vertrauen in globale Supply-Chains nachhaltig zerstören, was IT Infrastruktur schnell wieder zu nationalen Angelegenheiten macht – natürlich gerne unter dem Vorwand der “nationalen Sicherheit” und der Unabhängigkeit “kritischer Infrastrukturen”. Das stellt insbesondere Europa vor das Problem, dass es gar keine eigenen digitalen Infrastrukturanbieter hat. Man sieht bereits in der Huawei-Debatte, dass in diesem Fall gerne mit zweierlei Maß gemessen wird und insbesondere die deutsche Politik sich wohl auf eine IT-Infrastrukturelle Westbindung einschwenken wird. Im kalten Cyberkrieg sitzt diesmal auch der Westen hinter der eisernen Firewall.

Von den Spannungen sind unterschiedliche Firmen unterschiedlich stark betroffen. Amerikanische Firmen, die eine starke Abhängigkeit vom Chinesischen Markt haben werden umso abhängiger vom Goodwill der amerikanischen Regierung. Es ist ein bisschen so wie in Zeiten des Merkantilismus, wo die Regierungen Handelsmonopole vergab. Ähnliche Machtdynamiken werden sich in Zukunft dann abspielen, wenn es darum geht, eine Lizenz zum Handel mit China zu bekommen. Google und Facebook werden also weniger über diese Schiene erpressbar sein, als beispielsweise Apple und Tesla, was sich wiederum auch darauf auswirkt, wie viel Spielraum sie haben, sich gegen die Wünsche der Regierung zu stellen. Alles ist mit allem verbunden!

Facebook versucht unterdessen Regulierungs- und Zerschlagungsforderungen aus der Politik zuvor zu kommen, indem es einerseits seine Infrastrukturen (Instagram, WhatsApp, Facebook) durch Zusammenlegung und einem starken Kryptografieversprechen konsolidiert und andererseits interne Institutionenbildung (z.B. durch das “Oversight Board”) vorantreibt. Facebook wird versuchen, immer stärker eine von der institutionalisierten Politik unabhängige Legitimation aufzubauen. Mit entsprechendem Legitimations-Kampfgewicht wird vielleicht keine völlige Unabhängigkeit, wohl aber eine selbstbewussteres Auftreten gegenüber den USA und der EU möglich werden. Für die Libra-Währung sehe ich allerdings schwarz. Da haben sie sich Regulierungs- und Akzeptanz-mäßig verhoben. Aber auch ohne eigene Währung steuert alles weiter in Richtung Facebook Republik.

In all dem Kuddelmuddel wird sich für die EU die Frage stellen, ob sie post-Brexit die Kraft haben wird, eigene Projekte voranzutreiben, oder man sich weiterhin gegenseitig blockieren wird. Eine Chance könnte sich Prozessormäßig durch RISC V Architekturen ergeben, die durch ihr offenes Design einen Ausweg aus der Abhängigkeit von Intel und ARM versprichen. China scharrt da auch bereits mit den Hufen. Fehlt eigentlich nur noch ein Betriebssystem. Ich will gar nicht zu wagen hoffen, dass das cyberstragische Vakuum, in das sich Europa gesteuert hat, vielleicht doch noch die von mir erhoffte Staat-Open Source Allianz hervorbringt.

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Ausblick 2020 – Nele Heise

Was sind die großen Themen, die uns dieses Jahr erwarten? Da Nele solche Prognosen ganz und gar nicht mag, antwortet sie darauf lieber mit einem Verweis auf Dinge, die sie 2020 (weiter) beschäftigen werden.

Von *den Daten* zum Diskurs

Ein Thema, das ich aus dem alten in das neue Jahr mitnehme, ist digitale Ethik. Gemeinwohlorientierung, Transparenz, Verantwortung: Das sind nur ein paar der Schlagworte, die uns zuletzt immer wieder um die Ohren flogen. Algorithmen-Ethik, KI-Ethik, Datenethik – ethics everywhere! Die Gründe für diesen “ethical turn” in der Debatte um die Folgen digitaler Technologien sind mannigfaltig. Ob es sich dabei vorrangig um den Versuch der Tech-Industrie handelt, Regulierung zu umgehen [1], oder doch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Dimensionen normenbasierter Technikgestaltung zum Wohle der Gesellschaft, wird weiter zu beobachten zu sein. Dass es der Debatte mitunter an inhaltlicher Tiefe mangelt, kritisieren viele, die sich nicht erst seit gestern mit ethischen Fragen befassen. Teils fehlen uns (noch) die Konzepte, um normative Implikationen digitaler Technologien fassen, bewerten, diskutieren zu können. Bzw. stützen wir uns dabei nach wie vor auf tradierte Ansätze, etwa aus Medizin-, Medien- oder Forschungsethik, die aber nur begrenzt übertragbar sind. Dass dadurch wichtige Perspektiven unterbeleuchtet bleiben und sehr unterschiedlich gelagerte Konzepte durcheinander gewürfelt werden, zeigte jüngst die Debatte um das Ende Oktober 2019 veröffentlichte Gutachten der Datenethikkommission.

Ein Spiel, das wir 2020 vermutlich weiter spielen: Algorithmen-Ethik Buzzword Bingo

Wir werden uns 2020 also weiter darum kümmern müssen, was eigentlich hinter Begriffen wie “Datenethik” steht. Dabei sollten wir uns im Anschluss an Überlegungen wie von Lorena Jaume Palasi unter anderem darüber austauschen, wie eine Datenethik aussehen könnte, die über Konzepte von Datenschutz und Autonomie bzw. vorrangig auf das Individuum bezogene ethische Argumentationslinien hinausgeht. Wie etwa sähen Prinzipien einer auf soziale Formationen, auf Gesellschaft ausgerichteten Datenethik aus? Wie ließen sich hier zum Beispiel die immer lauter werdenden Rufe nach gemeinwohlorientierten Daten(auswertungen) integrieren? Überhaupt, wie kann sowas aussehen, gemeinwohlorientierte Technologie (wie sie etwa im Rahmen der bits & Bäume gefordert wurde)?

Von der Debatte um Mobilität, Gesundheitsdaten bis zu Varianten von Social Scoring durch staatliche Institutionen: Wir brauchen endlich ein paar neue Ideen, um den manchmal paternalistisch anmutenden Ansätzen von Regulierung, Bildung oder Verbraucherschutz etwas Konstruktiv-Kreatives, Subversives beizufügen. Einen emanzipatorischen Umgang mit und Gebrauch von Daten, wie er beispielsweise im Feminist Data Manifest-No anklingt. Dafür gilt es die oft sehr allgemein formulierten (normativen) Forderungen in Gutachten usw. konkreter zu denken. Und vielleicht auch etwas optimistischer. Das geht aber nicht ohne die Betroffenen – wir, die Gesellschaft, in all ihrer Vielfalt – endlich besser in die Debatte um die Gestaltung digitaler Technologien einzubeziehen. Damit das gelingt, müssen wir Wege finden, der Entfremdung der Menschen von ihren Daten zu entgegnen. Und das wird vermutlich eine der großen Herausforderungen dieses Jahres – und weit darüber hinaus.

Und sonst so?

Weiterhin spannend zu beobachten bleibt die Entwicklung digitaler Öffentlichkeiten, Plattformen und des Mediengebrauchs. So verdeutlicht die im letzten Jahr aufgekommene, teils befremdlich und immer hemmungsloser geführte Debatte um die vermeintlich bedrohte Meinungsfreiheit: Das Credo “über Selbstverständlichkeiten reden wir nicht” ist problematisch. Ja, wir müssen dringend über den Zustand gesellschaftlicher Institutionen unter den Bedingungen des Digitalen reden. Dabei müssen wir aber sehr genau hinschauen, welche Akteure solche Diskussionen anstoßen und wie wir darüber reden. Und vor allem dürfen wir dabei nicht müde werden, das vermeintlich Selbstverständliche, nämlich die Grundlagen von Demokratie, zu erklären und in brodelnden Debatten mitzudenken. Aus OWNW-Sicht interessant ist hier unter anderem die spannungsreiche Rolle von Intermediären und Plattformen: Wie werden sie 2020 mit den vielen, teils widersprüchlichen Forderungen aus Politik und Gesellschaft umgehen? Etwa jener, dass sie den Nutzer*innen Inhalte “ausgewogen” präsentieren müssten – was soll das eigentlich bedeuten? Kann eine algorithmisch strukturierte Umgebung Meinungsbilder “öffnen”? Wie passt das zum Versprechen personalisierter Nutzungserfahrungen? Und können wir uns 2020 vielleicht endlich von der “Filterblase” verabschieden?

Und dann wäre da noch ein Thema, das mich schon länger umtreibt: der anhaltende Audio-Hype. Der bietet nahezu alles, was man zur generellen Entwicklung digitalen Mediengebrauchs beobachten kann. Die Vermessung des Hörens, datengetriebene Geschäftsmodelle, die Dominanz von Streaming. Nicht zuletzt der laufende Kampf zwischen konkurrierenden Plattformen, der auch im Audio-Bereich mit Exclusives, Paycasts, personalisierten Podcast-Listen usw. zu einer “Verinselung” der Mediennutzung führen könnte. 2020 wird spannend zu beobachten, wohin diese Entwicklung geht: Datenbasiertes Audiomarketing kocht hierzulande erst richtig hoch, Anbieter wie Spotify erfassen nicht mehr nur die Beziehung zwischen User*innen und Musik, sondern auch zu politisch-kulturellen Inhalten in Podcasts. Was hat diese (erfahrungsgemäß nicht immer günstige) Kombination aus Kommerzialisierung und Plattformisierung des Hörens für Konsequenzen? Welche Bedeutung behalten dabei offene, dezentrale Technologien wie RSS? Und werden wir eine neue Blüte der “privaten Sicherungskopie” erleben? 

Man sieht: Es gibt so einiges, das wir 2020 im Auge behalten sollten. Und das ist doch ein schöner Auftrag. An uns alle.

[1] Besonders im Fokus dürfte diesbezüglich das im Oktober 2019 eröffnete Institut für Ethik in der Künstlichen Intelligenz (IEAI) an der TU München stehen. Denn: Es wird von Facebook mit Millionenbeträgen gefördert – ein Schelm, wer Böses dabei denkt. 

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Ausblick 2020 – Christoph Engemann

Was sind die Debatten im Jahr 2020? Eines steht fest: es wird auch geopolitisch ereignisreich. Christoph Engemann erklärt warum.

Neue Dekade, neues Glück, oder Unglück. Die 20iger beginnen erst richtig 2021 wenn fest steht, wer der amerikanische Präsident für die erste Hälfte dieser Dekade sein wird. Dennoch wo von 2020 die Rede ist, ist zugleich die Rede von den 20igern. Im folgenden werden daher drei Linien angesprochen, die meines Erachtens bereits sichtbar sind und die für die neue Dekade wichtig sein dürften.

  1. Diskursive (Geo)politics & technische Souveränitätsnarrative

Die ausgegangene Dekade hat eine enorme Politisierung und Geopolitisierung nicht nur digitaler Medien auf allen Ebenen über Hardware, Software, Infrastrukturen bis hin zu Inhalten und Metadaten gezeitigt, sondern auch erfahrbar gemacht, dass faktisch jede diskursive Formation politisiert werden kann und häufig längst schon wurde. 

Sämtliche Formen der Beobachtung, Prämissenbildung, Theoretisierung und Narrantivierung können als implizit oder explizit politisch durchkreuzt, markiert und skandalisiert werden. Mit solchen Zuschreibungen von epistemischen Tribalismus, bzw. bewusster oder unbewusster Lageraffinität werden Wissenschaft, Politik, Medien und Zivilgesellschaft permanent umgehen müssen. Eine Sensibilisierung für diese manchmal subtilen Formen der politischen Schwungmassengenese halte ich für eine zentrale Herausforderung der Dekade. 

Insbesondere für digitale Technologien erwarte ich vor diesem Hintergrund eine Intensivierung der Debatten um Hard- & Softwaresouveränität und Infrastrukturen, in deren Zuge in Europa enorme Geldmengen mobilisiert werden. Das Deutsch-Französische Future Combat Air System (FCAS) zeigt hier bereits erste Tendenzen an: man möchte eine fliegende Cloud bauen. Darüber hinaus werden im HPC und Embedded Bereich domestische RISC-V und ARM Initiativen eine Rolle Spielen. Für kritische Infrastrukturen erwarte, bzw. wünsche ich mir eine Debatte um Möglichkeiten und Grenzen formal verifizierter Software.

2. Europa Nuklear: die Bombe ist digital

Eine weitere wichtige geopolitische Entwicklung mit erheblichen Folgen für die Digitalpolitik ist der Zerfall der bislang existierenden atomaren Abschreckungsformationen. Während diesbezüglich derzeit Hyperschallwaffen im Fokus der Debatten stehen, gerät außer Blick, dass die aus dem kalten Krieg stammende nukleare Pose Europas durch zwei weitere Entwicklungen zu einer Neuaushandlung forciert wird. Erstens: dem Mißtrauen gegenüber den USA, zweitens: den Modernisierungsnotwendigkeiten der bestehenden Arsenale.

Der erste Punkt muss nicht weiter erläutert werden und auch die unwahrscheinliche Abwahl Trumps würde daran nichts ändern. Der zweite Punkt bezieht sich u.a. auf das seit 1996 bestehende Comprehensive Test Ban Treaty (CTBT), d.h. dem Aussetzen von Nuklearwaffentests. Die existierenden nuklearen Arsenale der großen Atommächte bestehen aus Designs der 70iger und 80iger Jahre, für die im Zuge des CTBT Garantien von 25 Jahren ausgesprochen wurden. 

Diese 25 Jahre sind 2021 um und während die USA bereits unter Obama eine umfangreiche und milliardenschwere Modernisierung der Arsenale begonnen haben, ist fraglich ob und wie insbesondere von anderen Ländern wie Russland, China oder Indien die Funktionsfähigkeit von redesignten oder neuen Waffen garantiert werden können. 

Zudem gehört zum nuklearen Abschreckungstheater die “demonstration of capability” – nur wer erfolgreiche Tests vorweisen kann, ist abschreckungsfähig. Entsprechend erwarte ich relativ früh in dieser Dekade die Wiederaufnahme von Atomtest seitens mindestens eines der ursprünglichen Vertragspartner, ggf. durch die USA unter Trump im Wahlkampf.

Für die hiesige Debatte ist jedoch folgender Punkt relevanter: die Bombe ist digital. Ohne Computer und Computersimulationen hätte es keine Atombomben gegeben. Für die Konstruktion und die virtuelle Testung in der Entwicklung sind Computerkapazitäten und Simulationsknow-how unter Kontrolle des entwickelnden Landes notwendig. 

Sollte Europa – und damit zwingend auch Deutschland – eine von den USA und Großbritannien unabhängige atomare Waffenkapazität anstreben, wird die Frage der IT-Komponenten dieser Waffensysteme zu einem zentralen Schauplatz der Debatten werden.

3. Terraforming & reverse Extractivism: scaling SCADA to the planet

Neben der Bombe ist der Klimawandel die zweite große geopolitische Kraft aus dem Computer. Ohne Klimasimulationen keine Klimapolitik und die ca. 90 in die Klimaberichte des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC)  eingehenden Klimasimulationsmodelle werden von Teams aus Teils scharf miteinander konkurrierenden Ländern berechnet. Dennoch zeigen sie bei aller oben unter “diskursive Geopolitics” angesprochener Differenzen zwischen den Interessen und Narrativierungsstrategien von bspw. China, Deutschland und Saudi-Arabiens eine erstaunliche Konsistenz: es wird wärmer und damit volatiler auf diesem Planeten. 

Der öffentliche Diskurs um den Umgang mit dem Klimawandel ist auf die die CO2 Reduktion fixiert: erneuerbare und alternative Energien, Elektromobilität, Energieeffizienzsteigerungen, und Verbrauchsminimierungen etc. Das ist aber nur eine Hälfte der “Climate Migitation”, die andere Hälfte besteht aus technischen Maßnahmen der Verringerung von CO2 in der Atmosphäre. Die Durchführbarkeit dieser Projekte ist angesichts der notwendigen Skalendimensionen umstritten und fraglich. Technologien, die signifikante CO2 Reduktionen erlauben, übersteigen in Größe und Komplexität aus dem 19. und 20. Jahrhundert bekannte Infrastrukturprojekte wie kontinentale Eisenbahnnetze oder ähnliches bei weitem. 

Das kann als Risiko oder als Chance gelesen werden und für Technologiekonzerne eröffnen sich neuartige und langfristige Marktszenarien, die zugleich ähnlich wie die Ölförderung durch und durch geopolitisch formiert sind. Standards, räumliche und zeitliche Zuständigkeiten und Zugriffsmöglichkeiten dieses reverse extractivism werden Resultat politischer Entscheidungsprozesse und Koalitionen sein, deren Gestalt derzeit wenig abschätzbar sind. In diesen Prozessen spielen Computersimulationen eine entscheidende Rolle, darüber hinaus werden die Vernetzung, Akquisition und Kontrolle der beteiligten Instanzen ein wesentliches Problem und Geschäftsfeld darstellen: Terraforming is a SCADA-business. 

Auch hier erwarte ich, dass die großen Industriekonzerne Europas aktiv entsprechende Diskurse protegieren werden und eine intensive Debatte um diese dann wieder einmal als Geschäftsfelder der Zukunft markierten Projekte zu beobachten sein wird.

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Ausblick 2020 – tante

Worüber werden wir in diesem Jahr sprechen müssen? In unserer Reihe von Ausblicken auf das kommende Jahr legt uns heute tante die Karten.

Die Analyse von soziotechnischen Systemen und Phänomenen ist meistens – wenn nicht immer – weit weniger technisch als landläufig gedacht. Ob es um “KI” geht oder um “Überwachung”, die Analyse der technischen Spielereien ist oft kaum ergiebig im Vergleich zur Analyse der Narrative, d.h. der Art und Weise, wie unterschiedliche Personen und Gruppen über das Thema sprechen. 

In den (soziotechnischen) Themenfeldern, die das Otherwise Network bearbeitet, werden 2020 meiner Meinung nach unter anderem die folgenden Aspekte von besonderer Bedeutung sein.

“KI-Winter”: Nachdem das Thema “KI” seit einigen Jahren extrem überhypt und auch mit Forschungsgeldern überschüttet wurde, wird sich zunehmend herausstellen, dass sich die Versprechen der Startups und Vordenker*innen nicht zu erfüllen scheinen – sogar Facebook gibt das mittlerweile zu. Bestimmte, einfache Aufgaben (Gesichtserkennung und andere simple Mustererkennungs-Tasks) werden zwar recht zuverlässig von Machine Learning Systemen bewältigt, aber die großen Versprechen (wie z.B. autonomes Fahren) liegen wohl weiterhin viele Jahre in der Zukunft (bzw. stellen sie sich zunehmend als Illusionen heraus). Das aktuell das Themenfeld “KI” dominierende Machine Learning stößt zunehmend an seine Grenzen. Deswegen stellen sich mit Blick auf 2020 auch einige Fragen: Kommt der nächste “KI-Winter” oder schleppt sich der Status Quo noch ein Jahr weiter? Wird der Begriff “KI” fallengelassen und ein neues Label auf dieselben Technologien geklebt und wie wird sich das auf die Debatten um Regulierungen von “KI” auswirken? Wie verändert sich die gesellschaftliche und politische Perspektive auf das Buzzword “KI”?

“Ethics in X”: “Datenethik”, “Algorithmenethik” und “KI-Ethik” werden weiterhin populäre Meme sein, unter denen sich ein ziemlich heterogener Mix aus Forschungsinstituten, NGOs und Unternehmen sammelt. Sie machen alle irgendwas zu Technologie, ihre einzige Gemeinsamkeit scheint aber zu sein, dass ihre Arbeit oft sehr wenig mit Ethik zu tun hat. Das Meme wird weiterhin den Diskurs steuern und seinen Weg insbesondere auf EU Ebene in Regulierung finden (zum Beispiel auf Basis des eher nicht so gelungenen Berichtes der Datenethikkommission). Es wäre sehr wünschenswert, den Diskurs um ethische Grundsätze für das Digitale im kommenden Jahr auf deutlich robustere Theorien zu stützen und auf dieser Basis (weiter) zu entwickeln. “Ethics-washing”, d.h. das Legitimieren von zweifelhaftem Technologieeinsatz durch “Ethik Grundsätze” oder “Ethik Boards”, wird sich weiter professionalisieren. Wir werden erste Ansätze durch Institute sehen, “Ethik” gegen Geld zu zertifizieren.

Auch Monopolfragen werden uns weiterhin beschäftigen. Facebook und Google sind zum Teil die grundlegenden Strukturen des Internets geworden und überhemen immer wieder kleinere Dienste. Wie gehen wir mit dieser Macht- und Marktkonzentration um? Sollten diese Anbieter eher zerschlagen werden? Oder besser interoperabel werden?) Oder investiert die EU mal wieder in europäische Clone? Der bisherige Umgang mit dieser Herausforderung ist oft entweder geprägt von Affirmation (“Living La Vida Google”), Fundamentalopposition oder Hilflosigkeit. Es wird von zentraler Bedeutung sein, sich politisch zu diesen zunehmend staatsähnlichen Gebilden zu positionieren und belastbare Strategien zu entwickeln, wie die Macht solcher Unternehmen demokratisch kontrolliert werden kann. Die Addressierung der Monopolstellung diverser digitaler Plattformen sollte in 2020 der erste Schritt auf diesem Wege sein.  

Ebenso wird uns auch die Zukunft der Arbeit  weiterhin als zentrales Thema durch das Jahr 2020 begleiten. Hierbei steht im Zentrum, das Science Fiction Meme von der Vollautomatisierung (in utopischer wie dystopischer Ausrichtung) auf die Realität anzupassen und darüber nachzudenken, wie ein gerechtes Zusammenleben in einer Welt aus Microjobs und Teilautomatisierung aussehen kann und soll. Wie müssen die Rechte von Arbeitnehmer*innen angepasst werden, um einen Schutz im Jahre 2020 zu gewährleisten? Wie muss Automatisierung besteuert werden? Welche Rolle können Gewerkschaften für “selbstständige” Microjobber einnehmen? 

Last but not least: “Quantumcomputing”. Selbst wenn die meisten Menschen nicht verstehen, was genau das ist und warum genau es möglicherweise für sehr, sehr spezifische Probleme potentiell große Fortschritte erlauben wird, so ist der Quantum-Hype gerade in der frühen Phase. Insbesondere auch nachdem Alphabet/Google nun unter dem unsäglichen Begriff der “Quantum supremacy” die Technologieführerschaft beansprucht. So ähnlich wie “die Cloud” oder “KI” wird “Quantum” im nächsten oder übernächsten Jahr der Begriff sein, unter dem viel Schlangenöl verkauft werden könnte. Hier wird viel Narrativ-Analyse und Aufklärungsarbeit anfallen, um Fakt von Fiktion und PR zu trennen. 

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Ausblick 2020 – Kathrin Ganz

Welche Themen werden uns 2020 und darüber hinaus bewegen? Der zweite Blick in die Glaskugel in unserer Reihe Ausblick 2020 kommt von Kathrin Ganz.

Die USA sind Mitten im Trump-Chaos – mit Folgen, die selbst bei einem Sieg der Demokraten im November noch lange nachwirken werden. Europa müsste sich in dieser Situation stärker als zuvor eine eigene Orientierung erarbeiten, vor allem gegenüber China und Russland. Meine Einschätzung ist, dass Europa in der Summe nicht in der Lage ist, strategisch auf diese Situation zu reagieren – weder in der Außenpolitik noch im Bereich der Technologieentwicklung und Infrastrukturen. Eine mögliche Folge: Europa wird sich provinzialisieren – was langfristig verändern wird, wie wir von hier aus uns und die Welt wahrnehmen. Das heißt auch, dass sich gesellschaftliche Spannungen in vielfältigen lokalen Konflikten entladen werden: Der Brexit wird viele Probleme nach sich ziehen, die pol regionale Unabhängigkeitsbewegungen werden ein großes Thema und auch die Faschisierung einzelner Staaten wird, so befürchte ich, voranschreiten.

Es wird ein konfliktreiches Jahrzehnt ohne klare Ordnung, in dem wir weltweit erleben müssen, wie sich die Klimakatastrophe mehr und mehr entfaltet und in dem sich sich soziale Ungleichheit weiter verschärft, das aber auch Möglichkeitsräume für dezentrale, global vernetzte Entwicklungen eröffnet. Für das Otherwise Network könnte das heißen, dass wir den Fokus verschieben sollten. Weg von den oft so seltsamen, buzzword-getriebenen Projekte der staatlichen Netz- und IT-Politik (auch wenn es immer wieder Spaß macht, sich die Ausschreibungen anzuschauen), hin zu den kleinen Initiativen, die an soziotechnischen Infrastrukturen mit gesellschaftlichem Impact arbeiten. Was entsteht dort und wie kann es gelingen, Ansätze zum Beispiel im Bereich der Partizipation oder Mobilität lokal zu implementieren und an die unterschiedliche Gegebenheiten anzupassen? Und auch hier müssen wir fragen: Wer gestaltet sie, wer investiert Geld – wenn es die öffentliche Hand nicht in ausreichendem Maße tut, was nicht zuletzt an Förderinstrumenten liegt, die stärker auf Innovationssimulation denn auf nachhaltige Infrastrukturen ausgerichtet zu sein scheinen.

Werfen wir zum Schluss einen Blick auf das Thema soziale Bewegungen. Hier erwarte ich, dass sie sich in den kommenden Jahren im großen Stil von den kulturellen und politischen Mustern und Kommunikationsweisen der Neuen Sozialen Bewegungen verabschieden. Okay Boomer – Okay Xer: Die gegenwärtigen Bewegungen werden von einer neuen Generation getragen, die bestimmte Logiken nicht mehr mit sich rumschleppen (müssen). Es wird interessant zu sehen, welche Konflikte diese Bewegungen prägen und welche Eckpfeiler sie für ihr Handeln entwickeln, natürlich auch mit Blick auf digitale Kommunikation: Bisher dienten digitale Kommunikationsmittel vor allem dazu, alte (neue Medien) nachzubauen; und oftmals ging es nicht ohne Doppelstrukturen, um die älteren und technikunfreudigen Mitstreiter*innen einzuschließen. Bei den Jüngeren ist das anders. Sie werden neue Ansätze entwickeln, um sich zu organisieren und Infrastrukturen für ihre Bewegungen zu bauen – und werden mit anderen Problemen konfrontiert sein, mit denen sie einen Umgang finden müssen. Ein Beispiel: Das Zusammenspiel von Aktivismus, Influencer Marketing und (Social) Entrepreneurship. Also schauen wir uns, wie es Katharin auf dem 36C3 mit ihrem Hongkong-Talk getan hat, Orte an, wo Menschen kollektiv handeln, um etwas zu bewegen, und dabei neue Ansätze entwickeln.

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Ausblick 2020 – Marcel Weiß

Das Otherwise Network ist zusammen mit euch allen in einem neuen Jahrzehnt aufgewacht. Die letzten zehn Jahre waren turbulent, die nächsten werden es nicht minder. Wir wollen uns deswegen am allgemeinen Orakel beteiligen und hier unsere Prognosen für die nächsten Jahre aufschreiben. Den Anfang macht Marcel Weiß.

2020 wird unter anderem von der turbulenten politischen Situation in den USA dominiert werden. Impeachment und Präsidentschaftswahl kommen beide mit unvorhersehbaren Dynamiken. (Wie die ersten Januartage des Jahres bereits gezeigt haben.) Ein wichtiges Thema im US-Wahlkampf wird aller Voraussicht nach auch die Regulierung der großen Tech-Plattformen sein. Sowohl Demokraten als auch Republikaner sind unzufrieden mit der Entwicklung der großen Plattformen, namentlich vor allem Facebook. Selbst ehemalige Mitarbeiter der Obama-Administration sehen deren damalige Laissez-Faire-Haltung gegenüber Silicon Valley mittlerweile kritisch. Das wird Europa weiter Rückenwind geben, die eigene Regulierung in diesem Sektor voranzutreiben. Hier in Europa wird diese Regulierung allerdings (zu) stark als Protektionismus über Bande genutzt. Die hiesigen alten Industrien wollen sich so schützen lassen. Das wird nicht funktionieren; auch wenn es dieses Jahr nicht zwingend radikale Abstürze geben muss. Aber so lässt sich leider auch viel Online-Porzellan zerschlagen.

Aufgrund der rasant ansteigenden Volatilität in Wirtschaft und Gesellschaft allgemein ist es schwer (und deshalb eher müßig), auch nur ansatzweise konkrete Vorhersagen für dieses Jahr zu treffen. Die digitalen Bausteine der neuen Wirtschaft und der neuen Gesellschaft zeichnen sich vor allem durch geringere Reibung in ihren Prozessen gegenüber den alten Institutionen aus, was die durch sie ermöglichten Ausschläge der Nadel umso stärker und unvorhersehbarer macht.

Man kann aber allgemeinere Trend-Aussagen über dieses neue Jahrzehnt treffen. Die Digitalisierung der Wirtschaft wird die nächsten Jahre noch schneller voranschreiten. Wichtige Puzzleteile, wie eine onlinehandelskompatible Logistik von Amazon und anderen Playern, die aufden Rest der Wirtschaft zurückwirken wird. (Starke Onlinemarken auf starken Onlinemarktplätzen brauchen keinerlei Massenwerbung im TV mehr beispielsweise.) Die Zwanziger Jahre könnten auch das Jahrzehnt werden, indem das Kräfteverhältnis zwischen analoger und digitaler Wirtschaft endgültig zugunsten der Letzteren kippt. Das kommende Jahrzehnt wird in jeder Hinsicht rasanter als das vergangene.

2020 wird sich der Trend der internationalen Supply-Chain-Expansion Chinas fortsetzen. China investiert weltweit, sehr stark in Afrika aber auch beispielsweise in Griechenland, direkt in Infrastrukturprojekte und gräbt sich damit in lokale Volkswirtschaften ein. In der Mongolei hat China es vorgemacht: die schleichende, ressourcengetriebene Übernahme der Infrastruktur, die dort passierte, ist in diesem Jahrzehnt für den Rest der Welt zu erwarten. In Verbindung mit von chinesischen Händlern und Herstellern bespielten Onlinemarktplätzen (Wish, Aliexpress, aber auch Amazon) und starken mobilen Apps (TikTok als ein erstes Zeichen der Dinge, die noch kommen werden) kommt der Rest der chinesischen Wirtschaft direkt bei der europäischen Bevölkerung an, ohne die traditionellen Mittelsmänner. Dieser direkte Zugang wird ein großes wirtschaftliches und geopolitisches Thema dieses Jahrzehnt werden.

Chinas wirtschaftliche Verflechtungen, die Regulierung der Plattformen und die ungewisse Zukunft der deutschen Automobilbranche in der digitalen Gesellschaft sind die großen Themen der deutschen Wirtschaft für die nächsten Jahre, und sind damit auch die Themenstränge, die mich dieses und die nächsten Jahre beschäftigen werden.

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